Fotos: Sarah Schovenberg
Berlin. Im Stadtteil Pankow besuche ich den jungen Künstler Fabian Seyd. Seyd, dessen Werk in erster Linie Malerei, darüber hinaus auch Skulpturen und Installationen umfasst, konnte in den letzten beiden Jahren seine ersten Museums-Solo-Ausstellungen verbuchen. Ein bedeutender Schritt! Schafft es ein Künstler/eine Künstlerin ins Museum, gilt dies als qualifizierte Anerkennung der künstlerischen Leistung. Die Kunst ist „geadelt“, ihr Wert steigt, die Karriere der/des Betreffenden nimmt ihren Lauf. Ich möchte mehr erfahren über seine Arbeiten, auch mehr erfahren über seinen künstlerischen Werdegang.
Ich soll bis zur Tankstelle fahren, dann mit einem U-Turn auf die andere Straßenseite wechseln und danach bis zum „hässlichsten Hochhaus“ fahren, das ich sehe. Da wäre ich dann richtig. In der Tat! Echt hässlich! Aber wenigstens durch Graffiti als Künstlerhaus auszumachen …
Fabian Seyd holt uns am Eingang ab und wir steigen gemeinsam in den Fahrstuhl, der sowohl aufgrund seines technischen Zustandes als auch aufgrund seines Designs einen angsteinflößenden Eindruck vermittelt. „Ist aber bis jetzt“, Seyd klopft dreimal auf das Plastikholz der Innenauskleidung, „nicht stecken geblieben.“ Wir kommen glücklich im vierten Stock an und betreten den Atelierraum. „Ich hab’ extra aufgeräumt. Es sah noch schlimmer aus“, so der Künstler lachend. Oha, kaum vorstellbar, denke ich. Der Gedanke scheint sich in meinem Gesicht zu spiegeln. „Jaja. Ich weiß. Für meine Eltern war das immer anstrengend, mich hier im Atelier zu besuchen. Das war ihnen zu viel Chaos. Deshalb ist das Atelier auch zur „Terra incognita“ für sie erklärt. Aber sie sehen sich meine Bilder sowieso lieber im Rahmen einer Ausstellung an“, erzählt Seyd lachend. Zum Verständnis: Fußboden und Wand sind übersät mit Farbklecksen und Pinselspuren. Auf dem Fußboden kleben Pinsel. In einer Ecke sieht es aus, als habe das Aufräumen darin bestanden, einfach alles, was sich vorher auf dem gesamten Boden verteilt hat, auf einen Haufen zu kehren. Und überall leere Farbtuben, Kartons, Kanister, Terpentinflaschen, pigmentgetränkte Lappen, ein Fläschchen Bier…
Atelier-Impressionen …
Aber erstaunlicherweise nehme ich es nicht als Abfall wahr, sondern als eine Art Rahmenhandlung für das zentral an der Wand hängende Bild, an dem Seyd gerade malt. Dieses Gemälde dominiert den Raum! Ein kleiner Junge mit leerem Gesichtsausdruck schaut mich an. Bekleidet mit weißem Hemd und dunkler Hose. Das Hemd dekoriert mit einer überdimensional großen Fliege. Die Haare brav gescheitelt, aufrechte Sitzhaltung. Die Hände ordentlich nebeneinander auf dem Schoß. – Ein nahezu klassisches Motiv, ähnlich den fotografisch genauen und doch typisierenden Familienbildnissen aus der Zeit des Biedermeier. Der Junge hatte offensichtlich keine Lust darauf, fotografiert zu werden. Alles sieht so unnatürlich aus, erzwungen, denke ich. Aber ebenso wie mein Blick vom Protagonisten angezogen wird, zieht mich auch der Hintergrund des Bildes in seinen Bann, der einem surrealen Naturspektakel ähnlich fast zu explodieren scheint. Ob hier die Gedanken des Jungen visualisiert werden? Steht vielleicht er kurz davor, zu explodieren? Weil ihn das Stillsitzen in den Wahnsinn treibt? Oder werden hier einfach parallele Welten dargestellt?
Ich zwinge mich, meinen Wahrnehmungsradius zu erweitern und entdecke auf dem Boden die Vorlage für das Gemälde. Tatsächlich! Es ist eine historische Fotografie. Hier ist der Hintergrund allerdings neutral und ruhig. Ich vergleiche Foto und Gemälde und realisiere nun noch deutlicher die Veränderungen. „Malen Sie immer nach Bildvorlagen“, möchte ich wissen. „Ja. Immer“, antwortet Seyd und deutet auf den Karton am Fenster, der randvoll mit Fotos ist. Ich entdecke darunter auch die Vorlage des Bildes, das ich zuvor in einer Galerieausstellung gesehen hatte. „Das ist doch …“, setze ich gerade an. „Ja. Genau. Das war eine der Vorlagen für die ‚Goya-Ausstellung‘. Hierfür habe ich ein bisschen experimentiert und das Foto per Bildbearbeitung zerlegt und dann wieder zusammengefügt“, erklärt er mir. Es ist wieder so ein klassisches Familienportrait.
Bild 1: Portrait mit Bildvorlage auf dem Boden – Bild 2: o. T. Ausstellung Pinturas Negras – Hommage à Goya
Ich schaue noch einmal auf das Gemälde an der Wand, schaue wieder auf die bearbeitete Bildvorlage. „Ist das jetzt eine Serie? Die Auseinandersetzung mit historischer Portraitfotografie“, frage ich. „Ja. Genau. Das ist mein aktuelles Thema“, antwortet Seyd. „Und wie ergeben sich neue Themen? Werden sie von Galerien oder Museen vorgegeben“, frage ich weiter. „Nein. Es ist so, dass ich über das ganze Jahr Bildvorlagen und auch Objekte sammle, die mir auffallen. Die Bilder mittlerweile allerdings kaum noch analog, sondern überwiegend digital. Anfänglich weiß ich noch nicht, warum ich mich genau für dieses Bild oder jenes Objekt entschieden habe. Irgendwann spüre ich dann innerhalb der Fotoquellensammlung einen inhaltlichen Zusammenhang und beginne zu katalogisieren. Mit diesem Katalogisieren entwickeln sich dann automatisch große neue Themenfelder, die letztlich die Leitgedanken der nächsten Ausstellungen bestimmen. Thematisch wird mir also weder von Galerien noch von Museen etwas vorgegeben“, so Seyd.
Inspirationsquellen
Wir setzen uns zusammen, blättern gemeinsam durch einen seiner Kataloge und schauen uns parallel auf seinem Rechner Bilder seiner letzten Präsentationen an. Der Katalog zeigt einen Querschnitt seiner Arbeiten aus den vergangenen zehn Jahre, allerdings ausschließlich Gemälde. Nicht nur die Inhalte sind vielfältig, sondern auch die Art der Malerei, stelle ich fest. Kaum ein Genre, das fehlt. Ich erkenne Motive der klassischen Renaissance-Malerei, des Stilllebens, der Landschaftsmalerei, des amerikanischen Realismus, der niederländischen Malerei … immer gegenständlich, oft abstrakt interveniert, durchweg gekonnt gemalt und mit einer leidenschaftlichen Erzähllust komponiert. Doch im Moment fällt es mir noch schwer, seine, Seyds Bildsprache zu erkennen. Was macht ihn oder besser gesagt was macht seine Kunst aus? Wir schauen uns Bilder seiner letzten Museumsausstellungen auf dem Rechner an.
Fabian und Elke
Unter dem Titel El jardin robardo/Der geraubte Garten setzte er sich im Wormser Museum Heylshof mit dem Thema Kolonialismus auseinander. Es fällt auf, dass sich seine Arbeiten wie selbstverständlich in die Sammlung einzufügen scheinen, die überwiegend Malerei aus dem 15. bis 19. Jh. beinhaltet und mit kunstgewerblichen Objekten kombiniert ist. Fundstücke von Expeditionsreisen werden in Schaukästen oder antikem Mobiliar präsentiert, an den Wänden die Gemälde Seyds. Sammlungsbestand – oder doch nicht? Der Künstler lacht mich fast triumphierend an. „Es ist ein Mix. Vieles von dem, was ausgestellt ist, also auch die scheinbaren ,Fundstücke’, entstammen meiner Trödelsammlung oder wurden von mir produziert. Auch meine Kinder haben das eine oder andere Stück beigesteuert, das wir nach Ausflügen in die umliegenden Wälder in unserem Garten bearbeitet haben, was eine Menge Spaß gemacht hat. Besonders toll fanden sie es dann, ihre Sachen in Museumsvitrinen als authentische Expeditionsmitbringsel ausgestellt zu sehen.“
Also zurück zu den „gefakten Fundstücken“. Ich sehe ausgestopfte Tiere, Muscheln, Felle, Gefieder, afrikanische Masken – also Jagdtrophäen jeglicher Art, kombiniert mit Gemälden Seyds. Oder die „echte“ historische Gemäldesammlung, kombiniert mit typischem Porzellan und Bronzeskulpturen des 19. Jahrhunderts, die in Wahrheit jedoch von Fabian Seyd im 21. Jahrhundert produziert wurden. Ein erfundenes naturhistorisch-ethnologisches Kabinett, eine moderne Wunderkammer, deren Exponate nicht zwischen Original und Fälschung unterscheidet.
Beispiele der Ausstellung El jardin robardo/Der geraubte Garten im Museum Heylshof in Worms
Die Ausstellung „homestories“ im Museum Goch bot wieder ein anderes Bild. Hier setzte sich Seyd künstlerisch mit dem breiten Spektrum der zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb des begrenzten häuslichen Umfelds auseinander. Auch hier wurden seine Gemälde durch Objekte ergänzt. Doch waren es diesmal keine „gefakten“ Skulpturen, die scheinbar dem Sammlungsbestand angehörten, sondern hier wuchsen die auf den Gemälden dargestellten Rauminhalte dreidimensional in den musealen Ausstellungsraum hinein. „Ist es gewollt, dass die Präsentationen als Gesamtinstallation lesbar sind“, möchte ich nun wissen. „Nein. Das überlasse ich dem Betrachter. Mir ist es nicht wichtig, eine bestimmte Kunstgattung vorzugeben. Mir ist es wichtig, dass nach Möglichkeit auch der Raum in eine Ausstellung konzeptionell einbezogen wird. Die Gemälde werden über die Objekte kommentiert, unterstützen das Thema der Ausstellung, machen die Inhalte dadurch lebendiger, erzählerischer, einfach plastischer“, lautet seine Antwort. „Sowohl beim Thema Kolonialismus als auch beim Thema häusliche Geborgenheit spiele ich mit utopischen Paradiesen, die es einfach nicht gibt“, ergänzt er. So wie die scheinbaren Familienidyllen der fotografischen Portraits der Biedermeierzeit, realisiere ich nun. Die ergänzenden Rauminstallationen sind demnach nicht einfach als Dekoration oder Rekonstruktion à la Heimatmuseum zu interpretieren. Es ist etwas anderes.
Beispiele der Ausstellung homestories im Museum Goch (Fotos: ©Couso Martell)
Im Atelier schaue ich mir seine Maltechnik genauer an. Noch in den Anfängen befindliche Gemälde und Collagen machen diese wunderbar nachvollziehbar. Selten beginnt er mit einer Vorzeichnung, doch bei der Grundierung spielt und experimentiert er mit Farben und Materialien. Spannend hierbei ist es, wie sich die aufgetragene Farbe im Prozess des Trocknens entwickelt. „Häufig bilden sich Formen und Strukturen, die nicht planbar sind. Das zusätzliche Auftragen einer Lasur führt wieder neue Ergebnisse herbei. Wenn ich dann das geplante Motiv ergänze, entwickeln sich in diesem gesamten Prozess immer wieder neue Ideen, die dazu führen, dass letztlich keines meiner Bilder planbar und dafür jedes eine Überraschung ist“, so Seyd.
Ich fasse bis hierhin zusammen: Fabian Seyd experimentiert mit Farben und Materialien, setzt sich hierbei mit der Kunstgeschichte auseinander, thematisiert gesellschaftliche Utopien … Ich versuche alles zu sortieren.
Fangen wir bei seinem künstlerischen Werdegang an. Nach Abschluss seines Kunstgeschichts- und Literaturstudiums habe er beschlossen, in die bildende Kunst zu wechseln, antwortet er auf die Frage nach seiner Ausbildung. Das erklärt schon einmal die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte. „Haben Sie Ihre Entscheidung, in die bildende Kunst zu wechseln, auch zeitweise bereut“, möchte ich nun wissen. „Und haben Sie immer an sich geglaubt“, bohre ich nach. „Zwischenzeitlich war es sehr hart. Viele Hoffnungsträger in meinem Umfeld haben irgendwann alles hingeschmissen, fahren heute Taxi oder kellnern. Aber ich habe frühzeitig erkannt, dass Talent zwar wahnsinnig wichtig, jedoch nicht alles entscheidend ist. Es ist die Eigeninitiative, die zählt. Und natürlich ist es auch der richtige Galerist zur richtigen Zeit, der auf einen aufmerksam wird. Diejenigen, die es ohne versucht haben, sind fast alle auf die Nase gefallen“, erzählt er mir offen.
Der „richtige“ Galerist ist derjenige, der den Künstler nicht nur vertraglich bindet und dessen Werke regelmäßig in den eigenen Galerieräumen präsentiert, sondern sich auch intensiv um dessen Förderung kümmert. Der dafür sorgt, dass Kontakte zu Museen hergestellt, Kataloge realisiert und auf ihn abgestimmte Marketingstrategien entwickelt werden. „Was genau war es Ihrer Meinung nach, das die Aufmerksamkeit Ihres ersten Galeristen auf Ihre Arbeiten lenkte? War es vielleicht das Gegenständliche, das handwerklich Versierte, das einen so starken Gegenpol zum Abstrakten bildet“, versuche ich mich weiter der Suche nach seiner persönlichen Formensprache zu nähern. „Vielleicht ist es ein bisschen so. Mir fällt auf, dass das Handwerkliche in der Kunst eine immer größere Anerkennung findet“, antwortet Seyd. Spiegelt sich der allgemein erkennbare Retro-Trend etwa auch in der Kunst, überlege ich nun. Ich dachte, Künstler stünden immer unter dem eigenen Anspruch, die Kunst revolutionieren zu wollen. Ich spreche meinen Gedanken laut aus. „Quatsch. Verlangt doch auch keiner. Mir ist es wichtig, die Kunst zu evolutionieren“, lautet die Antwort, die mich nachdenklich stimmt. Er entwickelt also einfach die Kunst für sich weiter, sucht sie nicht zwingend neu zu erfinden?
Hierin erklärte sich vielleicht sein unbeschwerter Ritt quer durch die Kunstgeschichte. Seine Rezeptionen und zeitgenössischen Interpretationen ließen sich schlichtweg als ein weiterentwickeln der Kunst beschreiben. Doch handelt es sich dann „nur“ um eine formale oder auch eine inhaltliche Weiterentwicklung, frage ich mich. In der Betrachtung der Kunstgeschichte zeigt sich doch, dass sich Kunststile stets im Kontext eines bestimmten Zeitalters entwickeln. Lässt sich Seyds „Crossover“, sein „Alles ist erlaubt“ nicht vielleicht auch als Antwort auf unser Zeitalter lesen? Spielt er hierin nicht sogar mit unserem zeittypischen Wahrnehmungsverhalten?
Wir sind es gewohnt, Bilder schnell zu betrachten und schnell einzuordnen. Schauen wir uns die Arbeiten Fabian Seyds an, begegnen uns bekannte Stile, Medien und Motive. Wie üblich katalogisieren wir blitzschnell, wollen uns gerade umdrehen und weitergehen, realisieren dann im nächsten Moment, dass irgendetwas anders ist, sind irritiert, schauen genauer hin, blicken vielleicht noch einmal auf den Titel der Arbeiten, schauen uns noch einmal genauer im Raum um. Wir werden neugierig, fühlen uns herausgefordert. Herausgefordert dazu, die Geschichten, die Seyd uns erzählt, zu enträtseln. Wir nehmen uns Zeit. Kunstbetrachtung als Beitrag zur Entschleunigung?
Vielleicht verlangt unser Zeitgeist auch eine Entschleunigung in der Kunstentwicklung. Es braucht hierfür offensichtlich nicht zwingend Revolutionen. Es geht auch langsam – mit einer Evolution der Kunst …
Weitere Informationen
Arbeiten Fabian Seyds werden aktuell in der Gruppenausstellung Neues zum Thema Weisswäsche in der Galerie Börgmann in Mönchengladbach präsentiert. Eine Einzelausstellung ist dort für Mai in Planung.
… zum Künstler: http://galerie-boergmann.com/kuenstler/fabian-seyd/vita.html
… zur aktuellen Gruppenausstellung und bevorstehenden Einzelausstellung: http://galerie-boergmann.com